Die Wegeunfälle im Sinne des § 8 Abs. 2 SGB VII

Vom gesetzlichen Unfallversicherungsschutz werden neben den Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen auch die Wegeunfalle erfasst. Nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) ist auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit gesetzlich unfallversichert.

In der Praxis werden allerdings die Wege zur Tätigkeit und zurück oftmals nicht direkt zurückgelegt oder der Weg wird durch private Tätigkeiten unterbrochen. Da die unterschiedlichen Auffassungen von Unfallversicherungsträger und den Versicherten in zahlreichen Fällen zu Klagefällen führen, hat die Rechtsprechung bereits viele Fragen beantwortet, wann ein Unfall auf dem Weg zur versicherten Tätigkeit und zurück noch vom gesetzlichen Unfallversicherungsschutz erfasst wird und wann nicht.

Beginn des versicherten Arbeitsweges

Der versicherte Arbeitsweg beginnt grundsätzlich mit dem Durchschreiten der Außenhaustüre, wie das Bundessozialgericht mit Urteil vom 11.11.1971 (USK 71157) entschieden hat.

Fährt der Beschäftigte mit dem Auto zur Arbeit, welches in einer Garage abgestellt ist, ist zu unterscheiden, ob die Garage über einen Zugang zum Wohngebäude verfügt oder nicht. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 27.10.1976 (USK 76189) gehört die Garage zum unfallversicherten Bereich, wenn diese keinen Zugang zum Wohngebäude hat und daher die Außenhaustüre durchschritten werden muss.

Ist die Garage aus baulicher Sicht mit dem Wohngebäude verbunden, gehört diese ebenfalls zum unfallversicherten Bereich, sofern kein Zutritt zum Wohngebäude vorhanden ist und damit die Außenhaustüre durchschritten werden muss (BSG-Urteil vom 27.10.1976, USK 76189).

Ist das Fahrzeug in einer Tiefgarage abgestellt, die mit dem Wohngebäude über eine Verbindungstür verbunden ist, gehört die Garage noch zum unversicherten Bereich (Urteil Bundessozialgericht vom 31.05.1988, USK 8891). In diesem Fall gehört die Garage noch zum häuslichen und damit zum nicht versicherten Bereich.

Türschwelle bereits unfallversichert

Mit Urteil vom 20.09.2012 hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (Az. L 2 U 3/12) entschieden, dass die Türschwelle bereits unfallversichert ist. Mit diesem Urteil mussten die Richter über den Grenzfall entscheiden, in dem der Kläger bereits mit einem Fuß die Außenhaustüre überschritten hatte und mit dem anderen Fuß an der sich schließenden Türe hängen blieb. Aufgrund dessen stürzte er nach außen und zog sich eine schwere Knieverletzung zu.

In ihrem Urteil vom 20.09.2012 vertraten die Richter die Auffassung, dass nicht erst mit vollständigem Durchschreiten der Außenhaustüre der Versicherungsschutz beginnt und erkannten den Unfall als Wegeunfall an. Ohne Bedeutung war bei dem Fall auch, dass der Unfall bereits im häuslichen Bereich begonnen hat.

Unterbrechung des Arbeitsweges

Wird der Arbeitsweg unterbrochen, können sich je nach Art und Dauer der Unterbrechung unterschiedliche Auswirkungen auf den Versicherungsschutz ergeben.

Grundsätzlich gilt bei einer Unterbrechung des Arbeitsweges, dass der Versicherungsschutz bei kurzfristigen Unterbrechungen des Arbeitsweges aufgrund privater Verrichtungen dann erhalten bleibt, wenn die Unterbrechung als geringfügig anzusehen ist (Bundessozialgericht vom 29.04.1980, USK 81306). Als „Faustregel“ gilt, dass eine Unterbrechung von bis zu drei Minuten für den Versicherungsschutz unschädlich ist. Dies ist beispielsweise beim Einkaufen von Frühstücksbrötchen in einer Bäckerei oder einer Zeitung am Kiosk der Fall. Dauert die Unterbrechung länger, besteht während dieser kein Versicherungsschutz.

Bei Unterbrechungen aus eigenwirtschaftlichen Gründen von bis zu zwei Stunden lebt der Unfallversicherungsschutz bei Fortsetzung des weiteren Weges wieder auf (Bundessozialgericht vom 20.08.1987, USK 87118). Bei einer mehr als zweistündigen Unterbrechung des Arbeitsweges wird der betriebliche Zusammengang gelöst, sodass in diesem Fall kein Versicherungsschutz mehr besteht.

Weg nochmals zurück zum Büro unfallversichert

Kehrt ein Beschäftigter, nachdem der Heimweg bereits angetreten wurde, nochmals in das Büro zurück, da dort die Geldbörse vergessen wurde, ist auch der zweite Heimweg gesetzlich unfallversichert. Zu diesem Ergebnis kam das Landessozialgericht Baden-Württemberg am 24.10.2012 (Az. L 2 U 5220/10).

In diesem Streitfall kehrte der Kläger am Unfalltag nochmals ins Büro zurück. Dort hatte er seine Geldbörse vergessen. Im Büro hat er Kollegen angetroffen, welche ihn in ein wichtiges berufliches Gespräch verwickelt haben. Auf der – dann zweiten – Fahrt nach Hause erlitt er einen Unfall, welchen die zuständige Berufsgenossenschaft nicht anerkannte.

Die Richter sahen bei der Rückkehr in das Büro und das berufliche Gespräch den Sachverhalt so, dass der Kläger faktisch seine berufliche Tätigkeit wieder aufgenommen hatte. Damit stand auch der zweite Nachhauseweg unter dem Schutz der Gesetzlichen Unfallversicherung.

Unterbrechung des Arbeitsweges zum Einkauf von Äpfeln

Eine Unterbrechung des Arbeitsweges, damit ein Beschäftigter in einem Supermarkt Äpfel einkauft, hatte das Bundessozialgericht als eine den Versicherungsschutz ausschließende Unterbrechung gesehen. In diesem Fall hatte ein Maschinenschlosser den Arbeitsweg zum Einkauf von Äpfeln verlassen. Den Arbeitsweg legte der Beschäftigte grundsätzlich mit dem Roller zurück. Auf dem Parkplatz des Supermarktes kam es dann zum Unfall, welchen die Berufsgenossenschaft nicht als Wegeunfall anerkannte.

Der ablehnenden Auffassung der Berufsgenossenschaft schloss sich das Bundessozialgericht mit Urteil vom 02.12.2008, Az. B 2 U 17/07 R an. Da der direkte Arbeitsweg von dem Kläger verlassen wurde und sich der Unfall auf dem Parkplatz des Supermarktes ereignete, war kein gesetzlicher Unfallversicherungsschutz gegeben.

Weg zurück zum Hoftor ist versichert

In einem weiteren Urteil vom 02.02.2016 hat das Hessische Landessozialgericht (Az. L 3 U 108/15) entschieden, dass ein Weg zurück zum Hoftor gesetzlich unfallversichert ist. In diesem Klagefall ging es darum, dass ein Beschäftigter mit seinem Pkw von seiner Hofausfahrt herausgefahren ist und anschließend den Wagen nochmals verlassen hat um das Hoftor zu schließen. Auf dem Weg zum Hoftor rutschte er auf der eisglatten Fahrbahn aus und verletzte sich.

Bei dem Weg zurück zum Hoftor sahen die Richter keinen Ausschluss des Versicherungsschutzes, da es sich beim Schließen des Hoftores um eine „eingeschobene Verrichtung“ handelt, welche mit dem Zurücklegen des Weges zum Betrieb in einem inneren Zusammenhang steht. Hier handelt es sich nur um eine ganz kurze und geringfügige Beschäftigung, da der Weg vom Auto zum Hoftor und zurück weniger als 30 Sekunden betrug. Damit liegt keine versicherungsschädliche Verrichtung vor, weshalb der Unfall von der Berufsgenossenschaft entschädigt werden musste.

Lange Pause schloss Versicherungsschutz für Tänzerin aus

In einem anderen Klagefall entschied das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (Urteil vom 03.12.2009, Az. L 31 U 392/08) dass der Arbeitsweg einer Tänzerin zu lange unterbrochen wurde, was zum Ausschluss des Versicherungsschutzes führte.

Die Tänzerin hatte bis 17:00 Uhr Proben. Später fand eine hausinterne Veranstaltung im Intendanzgebäude statt. In der Zwischenzeit fuhr sie nach Hause und machte sich um 21:30 Uhr nochmals auf den Weg zur Deutschen Staatsoper. Auf dem Weg dorthin fand ein Feuerwerk statt. Dieses hatte die Klägerin mit Kolleginnen und Kollegen, welche sie getroffen hat, angesehen. Während des Feuerwerks traf sie der Rest eines Feuerwerkskörpers und führte unter anderem zu einer Schädelprellung. Die Unterbrechung hatte etwa eine Stunde gedauert.

Diese lange Unterbrechung führte nach Ansicht der Richter des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg zum Ausschluss des Unfallversicherungsschutzes. Nur kurze Unterbrechungen, wie beispielsweise das Ziehen von Zigaretten an einem Zigarettenautomaten oder das Hineinheben eines Kinderwagens in den Bus sind unschädlich für den Versicherungsschutz. Die lange Unterbrechung von einer Stunde führte jedoch zum Ausschluss des gesetzlichen Unfallversicherungsschutzes.

S. hierzu auch: Lange Pausen schließen Wegeunfall aus

Unterbrechung des Arbeitsweges zum Tanken

Wird der Arbeitsweg unterbrochen, um den Pkw aufzutanken, ist dieser Vorgang grundsätzlich nicht unfallversichert. Der Versicherungsschutz kann sich allerdings ergeben, wenn das Auftanken des Fahrzeugs nötig ist, um die Fahrt zur Arbeitsstätte fortzusetzen. In einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 11.08.1998 (Az. B 2 U 29/97 R) führten die Richter aus, dass der Tankvorgang dann unfallversichert ist, wenn dieser unvorhergesehen notwendig wird, um den weiteren Weg zur Arbeitsstätte zurückzulegen. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn bereits vor Fahrtbeginn oder während der Fahrt der Reservetank beansprucht werden muss.

Mit einem weiteren Urteil vom 30.01.2020 (Az. B 2 U 9/18 R) hat das Bundessozialgericht ausgeführt, dass an der bisherigen ständigen Rechtsprechung nicht mehr festgehalten wird. Das Bundessozialgericht erkennt einen Unfall während eines Tankstopps nicht mehr an, wenn dieser zum verbrauchsbedingten Auftanken erforderlich ist. Da das Tanken zeitlich und örtlich frei gestaltbar und dem Versicherten überlassen ist, wird das verbrauchsbedingte Auftanken der eigenwirtschaftlichen Risikosphäre des Versicherten zugeordnet, womit kein Unfallversicherungsschutz der Gesetzlichen Unfallversicherung mehr gegeben ist.

Umwege auf dem Weg zur und von der Arbeit

Grundsätzlich steht nur der direkte Weg zur und von der Arbeit unter dem gesetzlichen Unfallversicherungsschutz. Doch es gibt auch einige Ausnahmen, bei denen auch bei Umwegen bzw. nicht direkten Wegen der Unfallversicherungsschutz besteht. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass weiterhin zwischen der Fahrt und der beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht.

Ein beruflicher Zusammenhang für die Umwege auf dem Weg zur Arbeit ist unter anderem dann gegeben, wenn ein Kollege aufgrund einer Fahrgemeinschaft abgeholt wird oder das Kind vor Arbeitsbeginn in den Kindergarten gebracht wird.

Wegeunfall trotz Umweg

Ein Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 15.11.2006 (Az. L 6 U 118/04) bestätigte, dass auch eine längere und kurvenreiche Wegstrecke gesetzlich unfallversichert sein kann. In diesem Fall verunglückte ein Motorradfahrer tödlich, als er mit seinem Motorrad von der Arbeit nach Hause fuhr. Die Berufsgenossenschaft lehnte den Wegeunfall zunächst ab, da die vom Motorradfahrer gewählte Wegstrecke kurvenreicher und im Vergleich zur Strecke durch die Stadt auch doppelt so lang war. Zeitlich bestand zwischen den zwei Wegen – kürzeste Weg durch die Stadt / gewählte kurvenreiche Strecke des Motorradfahrers – allerdings kein Unterschied.

Das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt bestätigte den Unfallversicherungsschutz für den kompletten Umweg, da die gewählte Wegstrecke für den Motorradfahrer hinsichtlich Fahrqualität und Fahrzeit günstiger waren und damit der innere Zusammenhang mit der versicherten Beschäftigung nicht gelöst wurde.

S. hierzu auch: Wegeunfall trotz Umweg

Große Umwege schließen Versicherungsschutz allerdings aus

Dass nicht sämtliche Umwege gesetzlich unfallversichert sind, zeigt ein Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26.02.2008 (Az. L 17 U 305/04). Hier wurde über einen Klagefall entschieden, in dem ein Motorradfahrer einen großen Umweg fuhr und dabei einen Unfall erlitten hat. Wie das Gericht ermittelt hat, war der Umweg nicht aus verkehrstechnischer Sicht erforderlich oder günstiger gewesen. Der Umweg wurde auch nicht erforderlich, um einen Stau zu umfahren. Der erlittene Unfall wurde in diesem Klagefall nicht als Wegeunfall qualifiziert.

Verkehrswidriger Überholvorgang schließt Wegeunfall nicht aus

Wird von einem Beschäftigten ein verkehrswidriger Überholvorgang durchgeführt, während dem es zu einem tödlichen Unfall kommt, kann die Berufsgenossenschaft deswegen nicht die Leistungen verwehren. Dies bestätigte das Landessozialgericht Schleswig-Holstein mit Urteil vom 21.04.2008 (Az. L 8 U 110/06).

Die Berufsgenossenschaft hatte zuvor die Leistungsgewährung von Hinterbliebenenrentenleistungen abgelehnt, da der Überholvorgang verkehrswidrig war. Der Unfallversicherungsschutz kann auch dann nicht verneint werden, wenn sich der Unfall beim Unterlassen der verkehrswidrigen Handlung nicht ereignet hätte.

Fragen zur Gesetzlichen Unfallversicherung

Die diversen Urteile der Sozialgerichtsbarkeit zeigen, dass jeder Unfall individuell beurteilt werden muss, ob es sich hierbei um einen gesetzlich versicherten Wegeunfall oder um einen Unfall handelt, welcher in den privaten Bereich fällt.

Registrierte Rentenberater stehen für eine Beratung zur Verfügung, wenn es um die Beurteilung und Durchsetzung der Anerkennung von Unfällen als Wegeunfälle im Sinne des § 8 SGB VII geht. Hier können Sie mit dem für die Gesetzliche Unfallversicherung registrierten Rentenberater Helmut Göpfert Kontakt aufnehmen.

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